Der heutige Morgen begann mit einer Menge Textarbeit.
Während Nick für ein anstehendes Treffen einen Entwurf des umgekehrten Generationenvertrages überarbeitete, wertete Hanna fleißig große Mengen Patientenbögen aus, um uns bezüglich der dringendsten Gesundheitsprobleme auf den neusten Stand zu bringen.
Dabei stach uns vor allem das so genannte „under-5-project“ ins Auge. Theoretisch steht jedem Kind bis zum fünften Lebensjahr in Sierra Leone kostenlose primäre Gesundheitsversorgung zu. Leider ist „unser“ Krankenhaus eines von sehr wenigen im Land, dem es gelingt dieser Aufgabe gerecht zu werden. Korruption und Ressourcenknappheit machen medizinische Versorgung für weite Teile der Bevölkerung unerschwinglich, sodass Sierra Leone nach Angola und der Zentralafrikanischen Republik im Jahr 2015 den traurigen Platz drei der höchsten Kindersterblichkeit belegte.
Beim Brüten über Krankenakten, in denen oft von vermeidbaren Krankheiten wie Cholera, Tuberkulose, Masern, Lassafieber und immer wieder Malaria zu lesen ist, wurde uns wieder einmal klar, dass Ebola lediglich ein Symptom – nicht die Ursache – der katastrophalen Gesundheitssituation in Sierra Leone darstellt.
Zusammen mit den Ärzten und einigen anderen führenden Personalmitgliedern besprachen wir im Anschluss, was im Rahmen unserer Möglichkeiten machbar ist, um das Magbenteh Community Hospital möglichst effektiv und nachhaltig weiter zu unterstützen. Einige Apelle, neben der finanziellen Unterstützung des „under-5-projects“, sind relativ banale Beschaffungen wie Blutzuckermessgeräte, ein Beamer für medizinische Fortbildungen und ein EEG-Gerät zur Diagnose von Epilepsien, die hier gerne als Fluch interpretiert werden.
Am Nachmittag trafen wir uns mit Clara, der Architektin des Schulprojektes.
Sie präsentierte uns die finalen Pläne der Gebäude und erläuterte uns Details der besonderen Bauweise, für die wir uns in Einklang mit den Menschen der Magbenteh Community entschieden haben. Statt mit Zement wird landesüblich mit „mudbricks“ (Tonziegeln) und lokalen Materialien wie Bambus gebaut, ähnlich unserer Krankenstation in Ruanda. Lediglich die Fundamente werden aus Beton sein. Dieser Baustil bietet klimatische Vorteile und wird auch der Akzeptanz des Gebäudes als „community based project“ zuträglich sein.
Wie relevant diese Akzeptanz ist, haben wir schon an ersten Schwierigkeiten bei der Präparation des Geländers festgestellt. Eigentlich war mit den Arbeitern vereinbart, dass alle Bäume, die dem Gebäude nicht unmittelbar im Wege stehen, auf keinen Fall gerodet werden.
Doch es bewahrheitete sich eine der wertvollen Weisheiten, die unser Freund Adam uns mit auf den Weg gegeben hat: „If the people are not 100% convinced of what you are doing, they won’t attack you – they will make sure your work doesn’t succeed“. So haben die lokalen Arbeiter, trotz ihres gegenteiligen Auftrags und der stundenlangen Sitzungen, in denen wir Details besprochen hatten, jedes Bisschen Grün auf unserem Gelände entfernt. Auf die Frage hin, weshalb sie das getan hätten, wiesen sie zögernd auf ein Waldstück neben unserem Schulgelände hin, von dem sie fürchteten, dass es Teil des Schulgeländes werden könnte. Erst nach wiederholten Beteuerungen unserer Partnerorganisation, dass wir keinen Anspruch auf das gezeigte Stück erheben und es auch sehr in unserem Interesse liegt, dass dieses wunderschöne Stück Primärvegetation mit seinen erhabenen Mahagonibäumen erhalten bleibt, entschuldigten sie sich für die radikale Rodung und folgten beim Ebnen der Zufahrtsstraße den Anweisungen der Architektin aufs Wort.
Erst unser abendlicher Besuch bei Adam, bei dem auch Architektin Clara und einige Sierra-Leonische Freunde aus der Community anwesend waren, begannen wir zu verstehen, was es mit dem Waldstück auf sich hat und warum sich die Arbeiter in dessen Nähe initial so merkwürdig verhalten hatten.
Wir erfuhren hinter vorgehaltener Hand, dass das Waldstück eine wichtige Heiligstätte der „secret society“, des Geheimbundes von Magbenteh ist. Von diesen Geheimbünden gibt es in Sierra Leone hunderte. Praktisch jeder gehört mehr oder weniger aktiv einem davon an und es ist schwer deren Strukturen und Riten zu verstehen, denn wie der Name sagt, agieren sie geheim. Einzig ein junger Mann, ein guter Freund von Adam, war bereit uns Auskunft über den intensiv gepflegten Voodookult und seine Organisation zu geben.
Er erklärte uns viele Hintergründe und weihte uns in einige Geheimnisse der lokalen Temne-Kultur ein. Zum Beispiel zeigte er uns auch seinen Oberkörper, den er üblicherweise sorgsam bedeckt hält, der über und über mit Mustern aus kleinen Narben bedeckt war. Auch ihm wurden in einem feierlichen Ritual als besondere Ehrung diese Narben mit Kobrazähnen beigebracht, um ihn gegen den Biss der giftigen Schlange zu immunisieren. Weiter erzählte er uns, dass die „secret societies“ als solche organisiert sein müssen, weil die Sierra Leonies gewohnt sind ihre Kultur gegenüber Fremden verstecken zu müssen. Sowohl den christlichen als auch den muslimischen Missionaren waren und sind ihre Praktiken und die nach wie vor sehr stark verbreitete Anbetung von Geistern nämlich ein Dorn im Auge.
Gegenstand des Treffens mit dieser bunten Runde war auch noch einmal, die knifflige Aufgabe des Auswahlprozesses für die Kinder unseres Schulprogramms und der Stipendiaten zu erörtern. Vetternwirtschaft und das „Krebsgeschwür“ der Korruption stellen hierbei die größten Herausforderungen dar.
Die Begegnungen und Erkenntnisse des heutigen Tages sind von unschätzbarem Wert für unsere Arbeit und helfen uns sehr, die Kultur unserer Freunde noch besser zu verstehen.
Erfüllt von neuen Eindrücken und mit dem Gefühl, gerade Einblick in eine Welt erhalten zu haben, die uns trotz unserer langen Aufenthalte in der Vergangenheit bisher weitgehend verborgen geblieben war, ließen wir den Tag gemeinsam mit unseren Sierra-Leonischen Freunden, Clara, Adam und seinem Affen „Chipo“ bei einer landestypisch zubereiteten Ziege ausklingen.