Give the cow but keep the rope

Zum Glück erwachten wir morgens früh um sechs erfolgreich ausgeruht und gut gelaunt nach unserer Nacht am Strand, denn der heutige Tag begann genauso ärgerlich wie der letzte begonnen hatte.

Nachdem wir uns einige Stunden lang auf der einzigen passierbaren, chronisch verstopften Straße ins Zentrum der Hauptstadt gequält hatten und das vermeintliche Büro der Airline gefunden hatten, wurde uns eröffnet, dass das Büro umgezogen und jetzt an einem völlig anderen Ort zu finden sei. Nach einigem Suchen fanden wir auch diesen, doch auch dort war Hannas verlorene Tasche nicht. Die nämlich werde an einem – 24h geöffneten – Schalter in unmittelbarer Nähe des Flughafens – an dem wir am Vortag vorbeigefahren waren – aufbewahrt. Das bewahrheitete sich. Die obligatorische Diskussion um „small money“ (Schmiergeldzahlungen) war relativ schnell erledigt, als sich herausstellte, dass die Dame an jenem Schalter dieselbe war, die Hanna ursprünglich die Fehlinformation gegeben hatte für ihr Gepäck ins Stadtzentrum fahren zu müssen. War wohl ihr erster Tag…

Nach dieser unfreiwilligen Stadtrundfahrt durch das Moloch Freetown fuhren wir mit einer Sorge weniger aber dafür mit Hannas Koffer im Gepäck vorbei an den letzten noch bestehenden, imposanten Urwaldbeständen der Küstenregion zu Adam.

Adam ist eine Person, deren Beschreibung einen kleinen Abschnitt wert ist:

Als bester Absolvent seines Jahrgangs an der Columbia University entschied sich der aus Boston stammende Adam mit nur 25 Jahren dazu, anstatt Lehman Brothers und Apple zu vertreten, nach Sierra Leone auszuwandern und hier die Universität von Makeni mit aufzubauen. Sein Hobby ist es, ausbeuterische Großunternehmen juristisch zu Fall zu bringen und vielen wohltätigen Organisationen gibt er unentgeltlich und unglaublich erfolgreich Rechtsbeistand. So auch unserer Partnerorganisation SSLDF und uns.

Verabredet haben wir uns mit ihm, um die neuste Version des Umgekehrten Generationenvertrages auf eine im Land passable Form zu bringen und verschiedene Optionen seiner Implementierung an der Universität von Makeni zu diskutieren. Die Informationen, die uns das Universalgenie im Laufe des Abends und des größten Teils der Nacht gab, überstiegen jedoch bei weitem unsere Hoffnungen.

Aus seinem enzyklopädischen Wissen und den Erfahrungen, die er innerhalb seiner fünf Jahre hier gesammelt hat, erarbeitete er mit uns einen Katalog von „Do’s“ und „Don’ts“ in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der durch und durch korrupten Regierung sowie den hier ansässigen Dorfgemeinschaften, deren Strukturen wenige so gut verstehen wie er. An einigen eindrücklichen Beispielen illustrierte er beispielsweise die stets unterschätzte, kulturelle Bedeutung des Voodoo indem er seinen Gärtner bat sein T-Shirt aus zu ziehen. Sein Körper war über und über mit Narbenmustern übersäht. Diese werden Mitgliedern so genannter „secret societies“ beigebracht, indem in bestimmten Ritualen des Voodookults kleine Mengen Schlangengift in die Haut eingebracht werden. Das soll Unbesiegbarkeit und vor allem Immunität gegen das Gift der Kobra bringen. Tatsächlich hat Abu nachweislich schon zwei Bisse der Königskobra überlebt. Des Weiteren ging es um Probleme wie die sehr weit verbreitete Beschneidung von Mädchen, Zwangsheirat, die Situation von Waisenkindern und vor allem natürlich darum, wie L’appel mit maximaler Wirksamkeit und nachhaltig die eklatante Armut in der Region bekämpfen kann.

Im Bezug auf die Arbeit mit der Regierung, etwa im Rahmen des gerade entstehenden Boarding- schol-Projekts, brachte unser Freund seine Ratschläge auf einfache, aber für uns sehr wertvolle und nachvollziehbare Formeln wie: „Give the cow but keep the rope“ oder „The more you get annoyed, the slower the person you are troubling will work here“

Da Adam im Begriff ist das Land zu verlassen, um zugunsten eines Angebots der UN als leitender Jurist die erste Universität des Südsudans aufzubauen, lud er uns direkt nach dem 7-stündigen Meeting ein, uns vor unserer Abreise noch einmal mit ihm zusammen zu setzen. So verabredeten wir uns gleich für den nächsten Abend noch einmal. Offenkundig glaubt er an uns und unsere Arbeit. Nachdem er uns noch eine Liste mit allen wichtigen Kontakten überreicht hatte, bat er uns an bei ihm zu übernachten. In Anbetracht der Agenda des kommenden Tages schlugen wir sein Angebot dankend aus. Daraufhin bat er einen seiner Studenten, der mangels elektrischem Licht zu Hause die kühleren Nachtstunden nutzte, um sich in Adams Haus auf seine Examina vor zu bereiten, uns mit seinem Motorrad nach Hause zu fahren. Zu dritt auf dem kleinen Motorrad fuhren wir durch die frühen Morgenstunden durch das nachts sehr trostlos wirkende Makeni in unser Krankenhaus und fielen todmüde, aber voller Motivation, in unsere Betten.